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Expeditions-Logbuch

24.07.2021: Ovtorsiutit

Nach der beschwerlichen Überfahrt von Ísafjörður zur Ostküste Grönlands haben wir unsere erste ruhige Nacht vor Anker seit sechs Tagen verbracht. Wir liegen im Ostfjord der kleinen Insel Ovtorsiutit, die nur durch schmale Sunde von weiteren Inseln und dem Festland getrennt ist. Was uns hier aber am meisten interessiert ist eine verlassene dänische Wetterstation, die auf dem schmalen Isthmus zwischen Ost- und Nordfjord liegt.


Ein wenig müssen wir uns allerdings noch gedulden. Zunächst gilt es, mit dem Dinghi den Fjord abzufahren, um sicherzustellen, dass sich über Nacht keine Eisberge ins Fahrwasser geschoben haben, dass die Ausfahrt also nach wie vor frei und möglich ist. Anschließend füllen wir unsere Wassertanks auf, indem wir Wasser von einem kleinen, aus einem Schneefeld gespeisten Wasserfall in Schläuchen zur Dagmar Aaen transportieren. Dreimal müssen wir fahren, bis beide Tanks voll sind.


Dann kann endlich die erste Gruppe die Wetterstation erkunden. Sicherheitshalber nehmen wir die eigentlich für Seenotzeichen vorgesehen Signalpistole von Bord mit, um im Notfall Eisbären verjagen zu können. Groß ist die Gefahr nicht, weil der ohnehin durch den Klimawandel stark dezimierte Rest der bedrohten Tiere eher an der Packeisgrenze jagt, aber die theoretische Möglichkeit eines Zusammentreffens besteht.


Sorgen, wir könnten auf Menschen treffen und somit unsere Quarantäne durchbrechen, brauchen wir uns hingegen nicht zu machen. Sowohl nach Norden als auch nach Süden sind es über vierhundert Kilometer Luftlinie bis zur nächsten Siedlung. Die Ostküste Grönlands ist rauer, auch kälter als die Westküste. Umso erstaunlicher ist es, die Ausmaße der Station zu sehen.


Das Dinghi können wir an einer soliden Betonpier festmachen. Daneben befindet sich eine Slipanlage, auf der Boote aus dem Wasser gezogen werden konnten. Der Slipwagen steht noch auf den Schienen, das Antriebsaggregat ist komplett vom Rost zerfressen.


Das Haupthaus beherbergt Büros, Schlaf-, Bade-, Wohnzimmer, eine geräumige Küche und eine großzügige Messe. Zudem ist das Gebäude komplett unterkellert. Einige Meter weiter finden wir einen Hühnerstall, der die Mannschaft früher wohl einmal mit Eiern versorgte. Die Funktionen zweier weiterer Gebäude, eins komplett und eins teilweise eingestürzt, lassen sich nicht mehr erschließen.


Zwei einst über vierzig Meter hohe, aus Holz gefachwerkte Funkmasten liegen eingestürzt der Länge nach auf dem felsigen Untergrund. Überall sind Ösen in den Fels gebohrt, an denen sie und andere Strukturen früher einmal abgespannt waren, beziehungsweise verstagt, wie wir Seeleute sagen würden. Neben völlig verrosteten Drahtseilen finden wir zahllose Spannschrauben und Schäkel, deren Verzinkung teilweise noch unbeschädigt ist. Hinter den eingestürzten Masten stehen zwei Dieseltanks, die zusammen um die zehn Kubikmeter Treibstoff fassen, zum Glück aber leer zurückgelassen wurden.


Am meisten beeindruckt und bedrückt uns jedoch die Müllhalde hinter der Slipanlage. Neben zwei- oder dreihundert völlig verrosteten Ölfässern, deren letzte Reste wahrscheinlich irgendwann im Laufe der Verwesung einmal in den Fjord gesickert sind, finden wir die Skelette eines uralten Jeeps, eines Land Rovers und eines Schneemobils. Alles aus Stahl ist von Korrosion zerfressen. Intakt sind nur noch Bauteile aus Aluminium und Kunststoff wie die Reifen der Fahrzeuge und die Gehäuse großer Autobatterien.


Aber auch eine spannende Geschichte hat die Station zu erzählen – zumindest, wenn die Hobbyforensiker der Crew sie korrekt lesen. Das Haupthaus wird durch eine Schleusentür betreten, also eine Folge von zwei Türen, um die Kälte draußen zu halten. In beiden Türen ist eine Glasscheibe eingefasst, aber nur das Fenster der äußeren Tür weist ein Durchschussloch auf. Wäre von außen nach innen geschossen worden, hätte das Projektil beide Scheiben durchschlagen müssen, woraus die Sherlocks der Dagmar Aaen schließen, dass der Schütze in der Schleuse gestanden haben muss. Dieser Schluss wirft natürlich die Frage auf, was jemanden dazu bewegen könnte, freiwillig seine eigene Scheibe von innen zu zerschießen. Die vielleicht nicht einzig mögliche, aber mit Sicherheit spannendste Antwort lautet, dass ein Eisbär direkt vor der Tür gestanden haben muss – so nah, dass ein Öffnen der Tür nicht mehr möglich war.